Gleichstellung: Eine Aufgabe, die alle angeht


Ein Artikel von Carolina Müller-Möhl

Es ist keine neue Erkenntnis: Frauen in Führungsgremien spielen eine wichtige Rolle. So zeigt eine Studie unter Mitwirkung des Massachusetts Institute of Technology (MIT), dass gemischte Teams im Vergleich zu reinen Männer- oder Frauengruppen den Umsatz um über 40 Prozent erhöhen. Konzerne, die einen besonders hohen Frauenanteil im Topmanagement aufweisen, erwirtschaften gemäss McKinsey eine Rendite, die mehr als 10 Prozent über dem Branchendurchschnitt liegt. Und laut CSRI bedeuten mehr Frauen im Senior Management eine Verbesserung des Finanzergebnisses und höhere Aktienmarktrenditen.

Nur die wenigsten Unternehmen entscheiden sich daher noch, auf das weibliche Potenzial zu verzichten. Stattdessen schreiben sie sich – zumindest öffentlich – auf die Fahnen, im Bewerbungsprozess genderneutral zu sein oder gar aktiv auf die Genderparität hinzuarbeiten. Insbesondere in grösseren Firmen gibt es eine Vielzahl an Frauen-Förderprogrammen, Weiterbildungsmassnahmen und Mentoring-Initiativen. Gender Diversity: ein alter Hut also?



Gleichstellung ein alter Hut? Nein.


Ein Report des World Economic Forum zeigt auf, dass das Thema noch lange aktuell bleiben wird. Bei unveränderten Bemühungen und Fortschritten wird es erst im Jahre 2095 tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau im Berufsleben geben. In fast 80 Jahren! Mit etwas Glück hätten dann unsere Urenkelinnen endlich die gleichen Chancen wie unsere Urenkel. Das ist angesichts aller positiven Beispiele und lobenswerten Bemühungen eine erschreckende Zahl. Was läuft falsch?

Der Mercer-Report «When Women thrive» über Frauen am Arbeitsplatz gibt Hinweise auf die Gründe: Zwar tragen Förderprogramme Früchte, und die Einstellungsraten für Frauen steigen weit stärker als die der Männer, aber das Wachstum scheint nicht nachhaltig zu sein. Denn trotz positiver Einstellungsraten sind die Ausscheideraten von Frauen sehr hoch, und diese bleiben den Unternehmen damit nicht lange genug erhalten. Alle Anstrengungen sind also vergebens, wenn Frauen aus diesem Pool in zu geringem Masse befördert werden. Insbesondere in Europa werden zu wenige Kaderpositionen aus den eigenen Management-Pipelines der Firmen rekrutiert.

Avenir Suisse grenzt in ihrem Report «Gleichstellung – warum der Arbeitsmarkt nicht versagt» die Gründe weiter ein. Während beim Berufseinstieg kaum Lohndifferenzen zwischen Männern und Frauen zu finden sind, steigen die Unterschiede mit den steigenden Karrierestufen – und mit dem Alter der Frau. Die Forscher des Think Tanks ziehen eine klare Verbindung zur Mutterrolle der Frau und der oft damit einhergehenden Teilzeitarbeit. Zwar arbeiten über 80 Prozent aller Frauen in der Schweiz, es fällt jedoch auch auf, dass fast 60 Prozent dieser Frauen nur Teilzeit arbeiten, davon wiederum 40 Prozent weniger als 50 Stellenprozente. Da nur etwa 16 Prozent der Männer Teilzeit arbeiten, werden Teilzeitpensen zu einem typischen Merkmal der Erwerbstätigkeit von Schweizer Frauen. Wie Avenir Suisse aufzeigt, ist damit ein Grossteil der geschlechterspezifischen Lohndifferenzen zu erklären. Teilzeit bringt oft auch schlechtere soziale Absicherungen mit sich, führt zu Diskriminierung bei Weiterbildungsmassnahmen und verursacht letztlich geringere Karrierechancen. Das schlägt sich dann wieder auf die Zahl von Frauen in höheren Kaderfunktionen nieder.



Die Kultur muss sich ändern


Es wird deutlich, dass zwischen hochgelobten Gender-Diversity- Programmen und der Realität eine Lücke klafft. Während eindrucksvolle «Leuchtturmprojekte» Aufmerksamkeit für das Thema und kurzfristige Abhilfe schaffen, werden unterschwellige Strukturen kaum verändert. Wie der Mercer- Bericht aufzeigt, sind es gerade diese Strukturen und Normen, die einen tatsächlichen Wandel zur Geschlechterparität verhindern. Auch für Prof. Iris Bohnet, Verhaltensökonomin, Professorin an der Harvard Kennedy School und Autorin von «What Works: Gender equality by design», ist daher klar: Normen müssen sich ändern, bevor die Gleichstellung der Geschlechter Realität wird.

Offensichtlich ist, dass Teilzeitarbeit und die damit einhergehende Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Zentrum dieser Bemühungen stehen müssen. Erst wenn Teilzeitarbeit – für Frauen und Männer gleichermassen – keine Karriereeinbusse mehr bedeutet, ist Chancengleichheit im Beruf möglich. Eine Studie der Boston Consulting Group (BCG) kommt hier zum gleichen Ergebnis. Firmen, die nachhaltig von Gender Diversity profitieren wollen, müssen einen ernstgemeinten kulturellen Wandel forcieren, der im Mindset der Manager beginnt und eine breite Akzeptanz von Teilzeitmodellen zur Folge hat. Eine einfache Umsetzung gibt es nicht, denn die Thematik ist hochkomplex. Es gibt auch keine simplen Hebel, die umzulegen sind, sondern es erfordert ein Zusammenspiel aller Involvierten. Fünf Ebenen von Akteuren, die beim Erreichen dieses Zieles meines Erachtens eine wichtige Rolle spielen, möchte ich im Folgenden aufführen – ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.



01 – Die Frauen selbst


Die wichtigste Ebene sind sicherlich zunächst die Frauen selbst. Hier sei gleich zu Beginn aufgerufen: Traut es euch zu! Es ist die klassische Selbstunterschätzung und damit die erste unterschwellige Norm, die sich dringend ändern muss. Frauen unterschätzen zu häufig ihre Fähigkeiten. Auch wenn weibliche Vorbilder zunehmen, werden sie dennoch oft als «Über-Frauen» stilisiert. Berufseinsteigerinnen überschätzen daher systematisch die Fähigkeiten ihrer Vorbilder und unterschätzen situative Einflüsse. Mit dem Resultat, dass sich Frauen zu häufig einer vermeintlich übermächtigen Konkurrenz gegenübersehen und vorschnell aufgeben.

Um dieser Konkurrenz gewachsen zu sein, hilft es auch, im Privatleben die nötige Unterstützung einzufordern. Hier sei Sheryl Sandberg zitiert mit der Aufforderung, den Lebenspartner zu einem richtigen Partner zu machen. Zu oft lassen sich Frauen – insbesondere in der Schweiz – mangels Unterstützung durch den Partner in die klassische Rolle der Mutter und Hausfrau drängen. Auch das ist eine gesellschaftliche Norm, die überholt ist und die Frauen nicht länger akzeptieren müssen.



02 – Politik


Nur Mut und Selbstvertrauen reichen jedoch bei weitem nicht aus: Eine berufstätige Mutter braucht die entsprechenden Rahmenbedingungen, die ihr die nötige Flexibilität ermöglicht. Hier ist die Politik gefragt – die zweite Ebene in meiner Betrachtung.

Es ist nicht Aufgabe des Staates, der Gesellschaft Normen vorzugeben und damit private Entscheide vorwegzunehmen. Jedoch ist es seine Pflicht, Hürden abzubauen, die einer Veränderung und Weiterentwicklung jener Normen entgegenstehen. So ist es an der Zeit, dass sich die Individualbesteuerung in der Schweiz durchsetzt. Die gemeinsame Steuerveranlagung von Ehepaaren führt dazu, dass die Norm eines Alleinverdiener- Haushalts weiter zementiert wird.

Mangelnde Unterstützung von Ganztagesschulen und Krippenplätzen sorgt darüber hinaus dafür, dass die familiäre Betreuung von Kindern die Norm bleibt. Studien zeigen, dass in Ländern mit ausgebauten Kinderbetreuungsangeboten Frauen leichter in den Hierarchien aufsteigen und in den obersten Etagen von Firmen besser vertreten sind. Von der Politik ist daher gefordert, Lösungen für familienergänzende Kinderbetreuung zu finden, die Hürden für erwerbstätige Frauen abbauen.



03 – Unternehmen


Die Politik kann – und darf – jedoch keinen gesellschaftlichen Wandel erzwingen. Es ist also vor allem auch die Initiative und Selbstverpflichtung der Unternehmen gefragt. Diese dritte Ebene erachte ich als besonders wichtig für die Veränderung entsprechender Normen.

Wie von Avenir Suisse festgestellt, ist Teilzeitarbeit der massgebliche Faktor, an dem die Gleichstellung der Geschlechter, insbesondere in den höheren Positionen, scheitert. Es wäre daher wichtig, dass Teilzeit als Fakt in der Unternehmenskultur verankert wird. Das ist erst möglich, wenn Mitarbeiter trotz Teilzeitpensum – oder Auszeit – gleichermassen geschätzt und gefördert werden. Für Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaube sind daher geeignete Aus- und Eingliederungsprogramme einzuführen, und Teilzeitarbeitende sollten mehr Führungsverantwortung erhalten. Dazu ist ein Paradigmenwechsel notwendig. Künftig sollte es heissen: Bis das Gegenteil bewiesen ist, gilt im Zweifel, dass die Stelle in Teilzeit möglich ist. Nicht andersherum. Sehr wahrscheinlich ist jedoch ein tiefergehender Ansatz nötig. Wie der bereits erwähnte BCG-Report aufzeigt, liegt der Abneigung von Teilzeitmodellen eine Präsenzpflicht zugrunde. In einer Unternehmenskultur, geprägt von männlich dominiertem Netzwerken und einer Tradition des «Gesehenwerdens », gilt permanente Anwesenheit als wichtiges Merkmal für Leistungsbereitschaft. Dabei ist vielfach bewiesen, dass Teilzeitarbeitende oft produktiver und erfolgreicher arbeiten. Ein erster Schritt kann daher sein, neue Bewertungsmuster für Leistung durchzusetzen. Allein auf Präsenz darf es nicht mehr ankommen – ganz im Gegenteil. Mit einer kritischen Konnotation von Überstunden im unternehmensinternen Diskurs kann ein Fokus auf die tatsächliche Effizienz gelenkt werden. Stattdessen können flexible Arbeitsmodelle ausgebaut werden, um die Vereinbarkeit mit der Familie zu gewährleisten. Es geht dabei nicht um die Reduktion des Pensums, sondern um die Freiheit, die entsprechende Arbeitszeit flexibel zu organisieren. Doch erneut: Hierfür ist eine Aufweichung der Präsenzkultur grundlegend.



04 – Gesellschaft


Aber Unternehmen stehen nicht im isolierten Raum, sondern sind von ihrer Umgebung abhängig. Wandel ist nur nachhaltig möglich, wenn sich auch die vierte Ebene, die Gesellschaft, weiterentwickelt. Nach wie vor ist unsere Gesellschaft von alten Denkmustern geprägt. Über Jahrzehnte haben sich Stereotype in unseren Köpfen festgesetzt. Solange als implizites Ideal der Vollzeit arbeitende Mann gilt, haben es alle anderen gesellschaftlichen Formen schwer: Noch immer wird jede Person an der Arbeitsleistung und dem gesellschaftlichen Beitrag dieses fiktiven Idealbürgers gemessen. Reduziert also ein Mann zugunsten der Familie sein Arbeitspensum, verliert er schnell seinen «vollwertigen» Status im Beruf. Andererseits ist es einer Frau schon aufgrund der impliziten Erwartung einer Schwangerschaft oder einer familiären Verpflichtung geradezu unmöglich, dem geforderten Ideal zu entsprechen. Gelingt es ihr dann doch, und sie ist ehrgeizig und erfolgreich im Beruf, wird sie schnell als verbissen abgestempelt. Denn typische Führungskompetenzen wie Ehrgeiz, Entschlossenheit und Durchsetzungsstärke werden vor allem dem Mann zugeordnet. Entspricht etwas nicht dem Stereotyp, reagiert die Gesellschaft zunächst irritiert. Unbewusste Vorurteile, sogenannte «unconscious biases», halten sich hartnäckig in unseren Köpfen. Es wird also deutlich, dass Gender Diversity ein Tagtraum bleibt, solange sich die Gesellschaft nicht von längst überarbeiteten Denkmustern trennt.



05 – Medien


Und an dieser Stelle sind die Medien, als letzte Ebene, in die Pflicht zu nehmen. Als Spiegel der Gesellschaft sollten sie vorangehen und Männer und Frauen nicht mehr an überholten Idealen messen. Statt Fehlleistungen von Managerinnen mit ihrem Frau-Sein zu begründen, sollten berufstätige Frauen realistisch dargestellt werden, mit der Normalität, die ihnen zusteht. Frauen sollten in den Verwaltungsräten nicht den zwiespältigen Status von Exotinnen und Quotenfrauen erhalten oder auf ihre Weiblichkeit reduziert werden. Anstatt über die neue Frisur oder die Farbwahl des Kostüms (man denke an die Leopardenpumps von Theresa May) muss über Inhalte, Leistungen und Erfolge berichtet werden. Das heisst aber ebenfalls, dass auch Männer die Frage gestellt bekommen, wie sie Familie und Beruf unter einen Hut bekommen. Auch bei Männern muss es den Status von Normalität erhalten, dass sie familiäre Verflichtungen wahrzunehmen haben. Denn das Thema der Geschlechtergleichheit ist nicht ausschliesslich bei Frauen anzusiedeln. Es ist eine Aufgabe, die Mann und Frau und damit die Gesellschaft als Ganzes betrifft.

Uns allen sollte bewusst werden, dass längst überholte Normen noch zu häufig unser Leben bestimmen. Ich sehe es als meine ganz persönliche Aufgabe, vehement zu widersprechen, wenn die Forderung nach Gleichstellung als Schnee von gestern abgetan wird. Oder wenn ich mich selbst dabei ertappe, eine Frau an antiquierten Normen zu messen. Denn Gleichstellung bedeutet auch, sich stets die eigenen Vorurteile bewusst zu machen.


Erschienen in der Women in Business am 11. November 2016