Vereinbarkeit Beruf und Familie

Unfaire Situation


Wider die liberale Korrektheit – für eine moderne Familienpolitik.


von Carolina Müller-Möhl

Es war Anfang Februar in Bern. Christian Lindner, ehemaliger Generalsekretär und Hoffnungsträger der deutschen FDP, Claudine Esseiva, Generalsekretärin der FDP-Frauen und FDP-Präsident Philipp Müller debattierten darüber, was Liberalismus heute eigentlich bedeutet und wie ein liberales Staatsverständnis heute definiert werden könnte. Es ist diese Frage nach den liberalen Werten, die die FDP die Nein-Parole zum Familienartikel fassen liess. Er untergrabe urliberale Maximen und stehe somit in krassem Widerspruch zum parteipolitischen Programm der FDP, die die Wahrnehmung von Eigenverantwortung eines jeden Bürgers fordert. Die Müller-Möhl Foundation, die sich für ein aufgeklärtes und engagiertes Bürgertum einsetzt, fordert dies ebenfalls, und doch befürworten wir zusammen mit den FDP-Frauen den Familienartikel.

Allein diese Realität lässt vermuten, dass der Fall Familienartikel komplizierter ist, als es urliberale Dogmen oder die plumpe Gegner-Kampagne suggerieren, die verzweifelte Staatskinder hinter Gittern leiden lässt. Eigenverantwortung – hier sind wir uns noch alle einig – heisst, dass Familien selbst die Verantwortung zu tragen haben, um für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Damit sie dies können, muss ihnen wirtschaftliche Selbständigkeit ermöglicht werden. Insbesondere jene Familien aber, die finanziell nicht auf Rosen gebettet sind, können dies nur dann, wenn ebenfalls die Frau berufstätig ist. Um dies zu ermöglichen, brauchen wir in unserem Land Rahmenbedingungen, damit Familien sich selbständig organisieren können. Es ergibt zudem auch schlicht keinen Sinn, dass teuer ausgebildete Top-Frauen früh aus dem Arbeitsprozess ausscheiden und keinen Beitrag mehr an die Finanzierung ihrer eigenen Ausbildung und an die Sozialwerke leisten können. Eine Medizinstudentin studiert im Durchschnitt sechs Jahre. Jedes Jahr kostet sie den Staat 50 000 Franken. Wenn sie trotz Abschluss des Studiums dann beim ersten Kind zur Kinderbetreuung zu Hause bleibt – übrigens oftmals lange über die Zeit der Kinderbetreuung hinaus –, geht uns teuer investiertes Humankapital verloren.

Auffällig ist auch, dass die liberale Debatte über das Familienbild mit Verve geführt wird, während staatliche Subventionen wie etwa für die Unterstützung von Hotelbetrieben oder für regionale Verkehrsprojekte grosszügig gutgeheissen werden. Kann es sein, dass sich traditionelle Liberale kaum daran stossen, dass der Mangel an Tagesstrukturen für die Betreuung der Kinder oder Blockzeiten fast immer die Freiheit der Frauen einschränken? Nur zur Erinnerung: Dass wir eine allgemeine Schulpflicht haben, verdanken wir auch einem staatlichen «Eingriff». Dagegen wird sich heute kaum mehr eine liberale Stimme erheben.

Es geht aber nicht nur darum, dass Frauen eine Familie und eine Karriere haben können. Die richtige Kinderbetreuung ist ein riesiges Kapital, das wir richtig ausschöpfen müssen, um den bildungspolitischen Vorteil der Schweiz beizubehalten und auszubauen. Der Verhaltensökonom und Nobelpreisträger James Heckman hat in verschiedenen Studien nachgewiesen, dass Bildungsinvestitionen im frühen Kindesalter Investitionen in den künftigen Wohlstand einer ganzen Gesellschaft sind. Kinder, die schon im Vorschulalter eine qualitativ hochstehende Bildung geniessen, verdienen später mehr Geld, haben mehr Nachwuchs und werden seltener kriminell. Unabhängig davon, ob diese Bildung im familiären Kontext oder in einer Krippe stattfindet.

Die heutige Situation ist schlicht unfair: unfair gegenüber jenen Frauen und Familien, die nicht frei darüber entscheiden können, wie sie Beruf und Familie miteinander vereinbaren können. Um diese unbefriedigende Situation zu ändern, werde ich für den Familienartikel stimmen. Als überzeugte liberale Bürgerin, als Berufsfrau und als Mutter.


Carolina Müller-Möhl, Investorin und Philanthropin, rief 2012 die Müller-Möhl Foundation ins Leben, welche sich u. a. in den Bereichen Bildung, Gender Diversity sowie Förderung des Wirtschaftsstandortes Schweiz engagiert. Sie ist Mitglied des Verwaltungsrates der AG für die Neue Zürcher Zeitung.