Bildung

Kredite für Bettler sind bei uns zinslos


Muhammed Yunus erhält jede Woche Hunderte Interviewanfragen. Kein Wunder: Der Bankier aus Bangladesch hat bereits vor 33 Jahren ein Kreditsystem erfunden, das zuverlässig funktioniert.

Von Carolina Müller-Möhl und Werner Vontobel

Nur dreissig Sekunden, nachdem wir die Nummer in Bangladesch gewählt haben, ist Muhammad Yunus persönlich am Apparat. Der Mann ist immerhin Nobelpreisträger, Professor und Chef eines weltumspannenden Unternehmens mit 28 000 Mitarbeitern in 40 Ländern. Doch anders als andere Konzernchefs, kann es sich Yunus nicht leisten, sich mit einer aufwendigen Bürokratie und einem ganzen Schwarm von PR-Mitarbeitern zu umgeben. Seine Unternehmen arbeiten für die Ärmsten dieser Welt, da zählt jeder Cent.


Herr Yunus, US-Präsident Barack Obama wird Ihnen am 12. August die höchste zivile amerikanische Auszeichnung über reichen, die Friedensmedaille. Was bedeutet Ihnen das?

Muhammad Yunus: Sehr viel, und mit mir freut sich ganz Bangladesch. Der Preis ist ein Zeichen der Anerkennung. Es zeigt, dass unsere Arbeit Wirkung entfaltet und ermutigt uns, weiterzumachen.


Ihr Unternehmen ist auch in den USA, beispielsweise in New York, tätig. Wer sind dort Ihre Kunden?

Unsere Kunden sind arme Amerikaner. Wir geben Kredite von durchschnittlich etwa 200 Dollar. In den USA sind es 300 bis 5000 Dollar. Dieses Geschäft können normale Banken nicht rentabel betreiben.[/b]


Wofür werden diese Minisummen denn gebraucht?

Da ist zum Beispiel ein Bäcker, der einen Kühlschrank braucht, um seine verderbliche Ware zu lagern. Oder ein Strassenhändler, der bisher jeden Tag seinen Karren neu mieten musste. Oder eine Coiffeuse, die einen Vorrat an Shampoos und Pflegemitteln braucht, um ihre Kundinnen bedienen zu können. Das sind kleine Anschaffungen mit grosser Wirkung.


Wo holen Sie Ihre Kreditfachleute her? Melden sich entlassene Bankmanager bei Ihnen?

Nein, die kennen dieses Geschäft nicht. Wir haben Spezialisten aus Bangladesch in die USA geschickt. Diese bilden junge Leute aus.


Sie geben Kredite an arme Leute ohne festes Einkommen und ohne Grundbesitz oder andere Sicherheiten. Damit tun Sie eigentlich alles, was hierzulande nicht denkbar wäre. Kann das gut gehen?

Natürlich geht es, das beweisen wir seit 33 Jahren jeden Tag. Wir investieren in die Zukunft und wir helfen unseren Kunden, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Das ist das ganze Geheimnis. Das müssen Sie noch etwas genauer erklären. Gern. Das Rezept ist in allen Ländern dasselbe. Erstens bilden wir Gruppen von je fünf Kreditnehmern, die sich gegenseitig verbürgen, also eine Risikogemeinschaf bilden. Zweitens vergeben wir die Kredite mit ganz wenigen Ausnahmen nur an Frauen.


Aber es gibt doch auch arme Männer …

Natürlich, aber es ist besser für sie, wenn ihre Frauen die Kredite erhalten. Frauen sind sehr viel verlässlicher, hartnäckiger und sorgen für die ganze Familie, also auch für die Männer. Das ist eine jahrzehntelange Erfahrung, die wir in allen Ländern gemacht haben.


Und drittens?

Diese Kreditgemeinschaften treffen sich jede Woche mit ihrem Betreuer. Bei dieser Gelegenheit werden die Zinsen eingezogen und vor allem werden auch Erfahrungen ausgetauscht. Das schafft einen Gruppendruck und eine Gruppendynamik.


Die Grameen-Bank wird für ihre hohen Zinsen kritisiert.

Wir zahlen acht Prozent für die Einlagen und unsere Kreditkunden zahlen in Normalfall 20 Prozent, Hypotheken kosten acht Prozent und die Kredite für Bettler sind zinslos. Wenn am Schluss ein Zinsgewinn übrig bleibt, wird dieser in die Projekte reinvestiert. Ich kann Ihnen versichern, bei uns wird sehr scharf gerechnet, wir betreiben viel weniger Aufwand als andere Banken.


Eine soeben veröffentlichte Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) sagt, dass Mikrokredite per saldo nicht helfen, ihre Kreditnehmer aus der Armut zu befreien.

Wissen sie, die sollen ihre Studien machen und wir machen unsere Arbeit. Übrigens, eine Studie der Weltbank, die ja in gewissem Sinne unser Konkurrent ist, kommt genau zum gegenteiligen Schluss …


Die afrikanische Ökonomin Dambisa Moyo schreibt in ihrem neuen Buch «Dead Aid», dass die traditionelle Entwicklungshilfe schädlich ist und speziell in Afrika durch Mikrokredite ersetzt werden sollte. Teilen Sie die Einschätzung?

Absolut: Die Hilfe der reichen Länder nützt deshalb wenig, weil 75 Prozent des Geldes sehr schnell wieder in die Geber-Länder zurückfliessen. Bei den Mikrokrediten hingegen bleibt das Geld im Land. Ich bin überzeugt, dass in Afrika sehr viel wirtschaftliche Entwicklung möglich ist.


Begrüssen Sie, dass westliche Banken jetzt auch die Mikrofinanz entdeckt haben und entsprechende Fonds auflegen?

Nein, nicht unbedingt. Viele Banken haben immer den Profit im Visier. Das ist für die Mikrofinanz die falsche Optik. Im Prinzip brauchen wir kein Geld von aussen, denn wir setzen mit unseren Krediten eine wirtschaftliche Entwicklung in Gang, die ihre eigenen Ersparnisse schafft. Das ist die Grundlage der Mikrofinanz.


Dennoch arbeiten Sie seit einiger mit gewinnorientierten Firmen zusammen. Sie nennen es Social Business.

Ja, das sind sehr wichtige Joint Ventures, die unsere Arbeit unterstützen. Mit Veolia etwa geht es darum, sauberes Trinkwasser zu beschaffen. Beim Projekt mit Danone versorgen wir die Bevölkerung mit einem erschwinglichen Joghurt, das all die Spurenelemente enthält, die für die Gesundheit der schlecht ernährten Kinder wichtig sind. Der Gewinn ist dabei Nebensache.


Sie sind engagiert, dynamisch, voll dabei. Sie sind aber auch 69 Jahre alt. Haben Sie schon einen Nachfolger aufgebaut?

Ich habe ein starkes operatives Team von Frauen und Männern um mich herum. Sie werden am besten wissen, wer von ihnen am geeignetsten ist. Ich trage die Botschaften von Mikrofinanz und Social Business in die Welt hinaus. Das neuste Projekt in Kroatien ist in den Startlöchern, es gibt noch viel zu tun.

Dieser Artikel ist mir wichtig, weil …

… die Welt mehr Menschen braucht wie Professor Muhammad Yunus– engagiert, motivierend, leidenschaftlich.

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